Eine Achterbahn aus Nähe und Distanz

Einst war Stefanie Stahl eine Pionier-Autorin zum Thema Bindungsangst. Während die Psychotherapeutin in ihrem Erstlingswerk das Phänomen von allen Seiten beleuchtet, geht sie in ihrem zweiten Buch Vom Jein zum Ja! noch einen Schritt weiter. Sie leitet Betroffene an, wie sie sich von ihren Beziehungsängsten befreien können und hat dabei auch deren Partner im Blick.
“Ich bin oft überrascht, wie viel Betroffenheit und Abwehr die Diagnose hervorruft”, schreibt Stefanie Stahl im ersten Kapitel. Dabei sei Bindungsangst an sich nichts Schlimmes und nichts anderes als ein Selbstschutz, den die Betroffenen in ihrer Kindheit (unbewusst) aufgebaut haben. So resultieren Bindungsängste aus einem menschlichen Grundkonflikt, den man in der psychologischen Fachsprache als Autonomie-Abhängigkeitskonflikt bezeichnet. Danach macht der Mensch schon im Mutterleib die Erfahrung abhängig zu sein, und kommt insofern mit der Erwartung auf die Welt dazuzugehören. Zu diesem angeborenen Bindungswunsch widerspricht jedoch eine Entwicklung, die darauf angelegt ist, immer selbstständiger und unabhängiger von den Eltern zu werden.
Ungleichgewicht im Kindesalter
“Es ist ganz wichtig zu verstehen, dass der Mensch im Verlauf seiner Entwicklung eine gesunde Balance finden muss zwischen seinen Bedürfnissen nach Bindung und Abhängigkeit auf der einen und Freiheit und Autonomie auf der anderen Seite”, erklärt die Psychotherapeutin. Der Umstand, dass jemand diese Balance im Kindesalter nicht gefunden hat - was familiäre Gründe haben kann - und das Ungleichgewicht mit ins Erwachsenenalter genommen hat, ist laut Stahl ebenfalls nicht das eigentliche Problem, sondern eher die Strategien, die die Betroffenen unbewusst wählen, um ihre Bindungsangst zu kontrollieren und mit ihr umzugehen. “Bildlich gesprochen, können sie ganz schön um sich schlagen, wenn ihnen der Partner zu nah kommt, oder sie lassen ihn einfach gegen die Wand laufen”, so die Autorin.
Der leidenschaftliche Typ
Die Betroffenen, die bei als zu viel empfundener Nähe eher um sich schlagen, ordnet Stefanie Stahl dem Stichwort “leidenschaftlich” zu und illustriert diesen bindungsängstlichen Typ am Beispiel von Julius (38) und Swetlana (34).
Julius ist nach eigenen Angaben verliebt in die Liebe. Er mag die Aufregung und das Abenteuer, wenn sich alles noch so frisch anfühlt. Swetlana, die Personifikation von “Zuckerbrot und Peitsche” war seine bisher größte Liebe. Sie konnte leidenschaftlich und hingebungsvoll, aber auch zickig und fordernd sein. Die Beziehung war eine ständige Achterbahnfahrt von gegenseitigen Verletzungen und leidenschaftlichem Sex, die allerdings darin endete, dass Swetlana Julius für ihren Tanzlehrer verließ. Julius kam danach mit Manu zusammen. Diese ist das Gegenteil von Swetlana. Ihre Anhänglichkeit törnt ihn aber eher ab.
Laut Stefanie Stahl ist Julius ein typisches Beispiel für einen bindungsängstlichen Beziehungsstil: Die größte Leidenschaft empfindet er, wenn die Beziehung eher unsicher ist. Gerät er jedoch an eine Person, die sich auf ihn einlässt, dann wird es ihm zu eng oder zu langweilig. Seinem “Beuteschema” liegt dabei ein Selbstwertproblem zugrunde. Julius sucht Bestätigung in der Eroberung und weil er Swetlana nie so richtig erobern konnte, war sie für ihn so faszinierend.
Verlustängste sind Bindungsängste
Aber auch Swetlana ist ein bindungsängstlicher Typ und auch sie leidet unter einem geringen Selbstwertgefühl, was zu erheblichen Verlustängsten führt. Sobald sich ein Gefühl der Sicherheit in der Beziehung einstellt, kommt Angst in ihr auf, den Partner zu verlieren und um diese Angst zu bewältigen wird sie aggressiv. Der Zickzackkurs zwischen Nähe- und Distanzwünschen, den Julius und Swetlana hier hinlegen, spiegelt insofern schlicht ihre innere Zerrissenheit auf der Handlungsebene wieder.
Die Maurer
Neben Julius und Swetlana gibt es auch bindungsscheue Naturen, die - außer in der verliebten Anfangsphase - relativ konstant einen gewissen Abstand zum Partner halten. “Sie sind nicht selten in Ehen oder Dauerbeziehungen anzutreffen, die sie ertragen, indem sie sowohl emotional als auch real häufig abwesend sind”, erklärt Stefanie Stahl. Dabei liege dem Verhalten sowohl dem oder der Maurer*in, als auch dem Partner wieder ein Selbstwertproblem zugrunde. Während der bindungsängstliche Teil Angst hat in eine unterlegene Position zu kommen und sich trotzig gegen die Erwartungen seines Partners stemmt, wird dieser umso abhängiger durch den inneren Wunsch vom Bindungsängstlichen Wertschätzung und dadurch eine Selbstbestätigung zu erfahren.
Hilfe zur Selbsthilfe
“Oft sind die Menschen, die in meine Praxis kommen, verzweifelt und fest davon überzeugt, dass sie niemals eine glückliche Partnerschaft führen werden”, erzählt Stahl. Doch das sei so nicht richtig. Laut der Expertin ist es gar nicht so schwer sich zu einem beziehungsfähigen Menschen zu entwickeln. Voraussetzung sei jedoch, dass die Betroffenen den Schritt tun, sich auf einer tiefen Ebene zu verstehen und zu erkennen warum das Problem überhaupt besteht. Denn erst dann könne man konkrete Maßnahmen ergreifen, um es zu verändern. Vielleicht hat Stahl auch deshalb das positive Zitat vom amerikanischen Paartherapeuten David Schnarch zum Motto ihres Buches gemacht: “Freiheit heißt nicht, sich vom anderen zu entfernen, sondern sich so zu steuern, dass in der Beziehung Raum für zwei Menschen ist.”