Abgetaucht: Wenn die gemeinsame Zeit plötzlich endet

Stell dir mal vor, du triffst dich für das erste Date draußen bei Sonnenschein im Biergarten. Nach dem ersten Getränk und einem netten Gespräch entschuldigt sich dein Gegenüber für einen kurzen Toilettengang und Schwups – ist dein Date verschwunden und taucht einfach nicht mehr wieder auf. Aber es war doch sooo schön! Eher unrealistisch, oder? Denn man könnte meinen, face to face hat ja wohl jeder so viel Anstand, niemanden öffentlich sitzen zu lassen. Doch beim digitalen Ghosting sieht das schon ganz anders aus. Ghosting beschreibt ein Phänomen, bei dem Menschen nach dem ersten oder zweiten Date (oder sogar viel später!) einfach vom Erdboden verschwinden, nicht mehr auf Anrufe oder Nachrichten antworten und quasi so tun, als hätte es den Kontakt oder die Beziehung nie gegeben. In Zeiten von Online-Dating und Social Media denkt so mancher, ein virtueller Kontaktabbruch fällt doch gar nicht so sehr auf wie im „echten Leben“. Laut der Autorin Tina Soliman ist es auch wahrscheinlicher geghostet zu werden, wenn die Begegnung ihren Anfang auf einer Dating Plattform gefunden hat: „Wie eine Beziehung beginnt, so wird sie später oft beendet“, erklärt sie. Bei Menschen aus dem engeren Umfeld, mit denen man vielleicht sogar gemeinsame Freunde teilt, scheint die Hemmschwelle größer zu sein. Aber warum werden Menschen zu Geistern?
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold
Abtauchen, bis der andere einfach aufgibt. Viel zu kompliziert zu erklären, dass es doch nicht miteinander passt oder man einfach keine Lust mehr aufs Dating hat. Die Probleme lösen sich von ganz alleine auf, wenn man die Kontaktversuche des anderen einfach ignoriert. Wie schön. Denkste! Dass dieses Verhalten verheerende Folgen für das Selbstbewusstsein des Geghosteten hat, liegt nahe. Wenn das erste Date gefloppt ist und beide sich unausgesprochen einig sind, ist ein „Wir brauchen uns nicht wieder sehen“ überflüssig und keiner muss sich erklären. Nach einer gewissen Zeit und Annäherung sollte man jedoch Verantwortung übernehmen und sich nicht einfach aus dem Staub machen. Fast die Hälfte aller Männer und Frauen berichtet, dass sie schon einmal von einem Datingpartner geghostet wurden, und ungefähr genauso viele geben zu, selbst schon mal geghostet zu haben. Und seien wir mal ehrlich: Hast du das nicht vielleicht auch schon einmal gemacht? Übrigens: Ghosting kann auch in Freundschaften und Familien stattfinden. Hier wird es jedoch eher als „Funkstille“ bezeichnet, die wieder aufgehoben werden kann.
Warum der ganze Spuk?
Take it easy: Die meisten Dating-Geister lieben es bequem. Man muss also nichts tun und die ungewollte Verbindung löst sich einfach in Luft auf. Unangenehmes lässt man lieber links liegen und beschäftigt sich nicht damit. Die Zeit und Energie wird dann direkt in die nächsten Dates investiert. Schlechtes Gewissen Fehlanzeige!
Vielleicht ist das Ganze aber auch ein Resultat fehlenden Mutes und großer Feigheit. Zu sagen, dass es nicht passt, zwingt den Ghoster dazu, sich mit sich selbst zu beschäftigen und in der Konfrontation auch negative Aspekte über sich selbst zu erfahren. So spart man sich auch ein eventuelles Feedback oder erfährt, was die andere Person eigentlich wirklich über einen denkt. Die Gefahr jedoch, ein schweres Gefühl auf dem Herzen mit sich rumzutragen, bleibt bestehen. Wie eine unerledigte Aufgabe, die einen ständig verfolgt. Außerdem sieht man sich immer zweimal im Leben...
Man kann sich ja mal ein Türchen für später offen halten: Wenn man etwas nicht beendet, kann man immer wieder dahin zurückkehren. „Sorry, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Hättest du mal wieder Lust auf einen Kaffee?“, kommt einem sehr bekannt vor. Na hat da etwa jemand Langeweile? Dann findet er oder sie passende Ausreden, warum man die letzten Monate so beschäftigt war. Zwischenzeitliche Dates, um den Marktwert zu checken und Spaß zu haben, werden hier natürlich verschwiegen.
Man mag es kaum glauben, aber es gibt Menschen, die das Ghosting nutzen, um eine bereits bestehende, feste Beziehung zu beenden: Kein klärendes Gespräch, kein Abschied, nichts. Hier liegen wohl tiefere Ursachen vor, wie die Unfähigkeit mit Problemen und Konflikten umzugehen und absoluter Empathiemangel.
Auch ein Geist hinterlässt Spuren
Es klingt dramatisch, ist aber wahr: Ghosting kann bis zu einer posttraumatischen Verbitterungsstörung führen. Man fühlt sich ungerecht behandelt, herabgewürdigt und verliert das Vertrauen in andere Menschen. Häufen sich diese Erfahrungen, prägt sich das Ganze in unser Unterbewusstsein. Warum bin ich nicht gut genug für die andere Person? Was habe ich falsch gemacht? Selbstzweifel, Bindungsängste und Ungewissheit sind Folgen des Ganzen. Daher sollte sich jede datende Person bewusst sein, dass auch der respektvolle Umgang mit zunächst einmal fremden Personen im digitalen Zeitalter enorm wichtig ist und Spuren hinterlassen kann. Die Hemmschwelle ist durch das Online-Dating einfach enorm gesunken: Man hat das Gefühl, der Person an der anderen Leitung keine Erklärung oder Rechenschaft schuldig zu sein.
Frühwarnsystem
Es gibt kleine, frühzeitige Anzeichen, die auf einen Ghoster hinweisen können. Wenn du ein mulmiges Gefühl hast, solltest du auf Folgendes achten: Die charmanten Liebesbotschaften werden immer weniger oder kürzer? Du musst immer den ersten Schritt machen? Das Interesse an dir und deinem Alltag geht verloren? Dein Date hat irgendwie nie Zeit, ist schwer beschäftigt und verschiebt ständig mögliche Treffen? „Sorry, ich hatte viel Stress“ sollte für 14 Tage Sendepause keine Entschuldigung sein! Ausreden, Halbwahrheiten und lange Wartezeiten auf neue Nachrichten des Schwarms sind ein weiteres großes Indiz, dass irgend etwas nicht stimmt.
Wie du dich schützen kannst
Um dich und dein Selbstwertgefühl zu schützen, solltest du bei diesen Anzeichen ein klärendes Gespräch suchen, um zu schauen, ob vielleicht doch etwas Ernsteres dahinter steckt. Doch sei dir sicher: Es ist nicht deine Schuld, sondern einzig der Charakter des Menschen, der einfach verschwindet. Versuche nicht hinterherzutelefonieren oder unzählige Nachrichten zu schicken, denn ganz nach dem Motto „Keine Antwort ist auch eine Antwort“ spiegelt das Verhalten ein nicht (mehr) vorhandenes Interesse des Gegenübers wider. Und mal ganz ehrlich: Willst du mit einem Menschen zusammen sein, der nicht offen und ehrlich mit dir kommunizieren kann, der dich hinhält und dich dadurch quält? Es ist schwer und braucht seine Zeit, aber akzeptiere lieber den Kontaktabbruch, schaffe eine klare Grenze und schaue nach vorne:
„Es ist verrückt, alle Rosen zu hassen, nur weil dich eine gestochen hat oder auf alle Träume zu verzichten, nur weil sich einer nicht erfüllt hat.“ - Antoine de Saint-Exupéry