Heul doch!

Niederländischen Studien zufolge tat es mir allerdings nur verdammt gut, weil ich dabei nicht alleine gewesen bin. Stattdessen konnte ich mich an eine Schulter anlehnen und mich so richtig ausheulen. Dabei war es mir auch vollkommen egal, dass mich Passanten und Passantinnen für einen flüchtigen Moment so erlebt haben. Ich bekam Trost und wurde wortwörtlich festgehalten. Gerade das ist ein entscheidender Faktor dafür, das emotionales Weinen zu einer Wohltat für Körper und Geist wird. Tränen vergießen ist also alles andere als eine Schande.
Um die Pointe also schonmal vorweg zu nehmen: Weinen tut aus psychologischer Sicht wirklich gut, kann sich aber unter gewissen Umständen auch negativ auf den Gemütszustand auswirken. Weinen aus Frustration oder Zorn bietet laut der Psychotherapeutin Sonja Kinigadner aus Wien kaum Hoffnung auf eine lang anhaltende, emotionale Veränderung. Vielmehr sollte bei dauerhaftem Weinen therapeutische Hilfe beansprucht werden.
Tränen haben einen Sinn
Laut Charles Darwin hat das Weinen unter anderem eine kommunikative Absicht. Eine weinende Person signalisiert ihrem Gegenüber ein großes Bedürfnis nach Trost und emotionaler Unterstützung. Das Gegenüber neigt wiederum dazu, der trauernden Person tatsächlich seine Hilfe anzubieten. Tränen wirken nämlich warm und freundlich. Eine solche Unterstützung begünstigt die positive Wirkung des Weinens. Der weinenden Person sollte genug Zeit für die Trauerphase und Verständnis gegeben werden. Es hilft schon sehr, einfach nur anwesend und still zu sein.
Die andere Funktion, die Darwin dem Weinen zuspricht, ist eine entspannende. Allerdings ist hier zu beachten, dass eine solche Entspannung erst nach dieser Trauerphase eintreten kann. Während des Weinens steht der Körper zunehmend unter Anspannung, Stress und Erregung. Angeblich bestehen Tränen unter anderem aus Stresshormonen, die ausgeschüttet werden. Diese sollten nicht wieder durch den Mund in den Körper gelangen. Dieser Fun Fact ist aber wissenschaftlich überhaupt nicht belegt. Es wurde bisher erst wenig zu den Bestandteilen emotionaler Tränen geforscht.
Reinigung des Geistes
Eine amerikanische Studie von 1983 fand heraus, dass eine Ansammlung von Emotionen tatsächlich zu nachhaltigen psychischen Schäden führen kann. Gerade das Ausweinen könne diesen Schäden vorbeugen. Weinen löst Stress, Anspannung und schenkt neue Energie. Bereits in der Antike entdeckten Hippokrates und Aristoteles diese reinigende Kraft der Tränen.
Bei meiner Recherche zur Psychologie des Weinens bin ich auf unzählige Studien und Thesen gestoßen. Allerdings widersprechen sich diese teilweise oder ergänzen sich einander. So ganz sicher scheint sich die Wissenschaft also noch immer nicht zu sein, inwieweit und warum Tränen wohl tun.
Nur Mut zur Träne
Sicher ist aber, dass es überhaupt keine Schande ist, zu weinen. Entgegen der gesellschaftlichen Auffassung, dass Tränen ein Ausmaß der menschlichen Schwäche seien, ist es sogar ratsam, offenkundig zu weinen. Nur so erfährt die trauernde Person Trost durch eine andere. So wird zudem die zwischenmenschliche Bindung gestärkt und das wohltuende Erlebnis begünstigt. Doch auch Tränen, die im Stillen vergossen werden, weil die Maßnahmen der anhaltenden Corona-Pandemie in individuellen Fällen keine Alternative bieten, können wohltuend und schmerzlindernd sein. Hab Mut zur Träne! Beleidigende Ausrufe wie „Heulsuse“ oder „Weichei“ sollten gekonnt ignoriert werden. Das gilt vor allem auch für Männer, die lieber heimlich weinen, aus Angst als schwach angesehen zu werden. Weinen zeigt, wie klug unser Körper ist. Wenn das Weinen Überhand nimmt, sollte allerdings wirklich über eine psychotherapeutische Hilfe nachgedacht werden.
Zu guter Letzt
Die letzten Zeilen widme ich einigen Abschiedsworten an mein innig geliebtes Fahrrad. Liebe Elsa — ja, mein Rad hatte einen Namen — du wurdest einst von meinem lieben Opa aus zwei Rädern gebastelt, hast schon zig Kilometer hinter dir. Ich bin drei wunderbare Jahre auf deinem Sattel durch ganz Münster geradelt. Auch wenn du dich manchmal an einer anderen Stelle versteckt hast, habe ich dich doch immer wieder gefunden. Mein Opa, mein lieber Papa und ich haben uns immer um dich gekümmert, dich mit viel Liebe repariert und aufgemotzt. In dir steckt so viel Liebe, Zeit und Mühe, wie in einem materiellen Ding nur stecken kann. Ich hoffe aus tiefstem Herzen, dass dich dein neuer Besitzer mindestens genauso zu schätzen weiß, wie ich es immer getan habe und immer tun werde.
Und damit sind meine Tränen getrocknet.