Liebe ist wie ein Optikerbesuch

Du sehnst dich nach Funken, die sprühen und Schmetterlingen, die fliegen. Urplötzlich bahnt sich jemand mit dieser besonderen Aura an, der du sofort verfällst. Ein genauerer Blick durch das neu erstandene Brillenmodell und ein erstes Gespräch mit diesem Gegenüber verrät: Augenfarbe, Körperbau, Intellekt… gefällt dir. Dieses sofortige Interesse geschah intuitiv. Vermutlich war das Brillengestell und der rosa Schimmer der Außenwelt gar nicht spürbar. Dieser Annäherungsphase des potenziellen Liebhabers steht eine selektive Wahrnehmung zugrunde. Du siehst nur das, was du möchtest.
Und dieser Glanz des Gegenübers und - oh là là - das offenkundige Interesse seinerseits bescheren dir wild umher flatternde Schmetterlinge in der Magengegend, unaufhörliche Schlaf- und Appetitlosigkeit, pure Verliebtheit. Plötzlich siehst du alles rosarot und schwebst wie auf Zuckerwatte. Dein Liebling riecht und spricht betörend, sieht umwerfend aus und glänzt mit seinen Eigenschaften. Ihr lebt gemeinsam auf, neigt zum Überschwang, seid wie auf Droge.
Ihr könnt euch gut riechen
Was sind eigentlich die Ursachen dieses neurologischen Ausnahmezustands? Der Chemiker bringt das Konzept der attractio selectiva ins Spiel, nach der sich zwei zueinander stimmige Stoffe wie aus Zauberhand selbstständig verbinden. Der Psychophysiologe überträgt dieses magische Bild auf zwischenmenschliche Bindungen. Die Chemie stimmt, sobald zwei Genprofile sich aufgrund ihrer ausreichenden, genetischen Unterschiede ideal ergänzen. So wird nämlich ein gesunder Nachwuchs sichergestellt. Und da das genetische Profil vom individuellen Körpergeruch widergespiegelt wird, entscheidet vorrangig die Nase über eine chemische Verbindung mit dem Traumpartner.
So betrachtet, landet der Physiker mit seiner Erkenntnis, Gegensätze zögen sich an, hier einen Volltreffer. Wird diese Aussage allerdings auf die charakterliche Ebene gezogen, schaut die Sachlage wieder anders aus. Aus psychologischer Sicht gewähren nämlich ähnliche Charaktere, Lebenseinstellungen und Vorlieben in der Partnerschaft eine lang anhaltende und stabile Beziehung. Äußerlichkeiten und Stimme des Gegenübers runden das Bild ab.
Stimmt nun das chemische, charakterliche und äußerliche Profil mit den eigenen Wünschen und Vorlieben überein, besteht also offenkundiges Interesse aneinander, so beginnen je nach Geschmack die Schmetterlinge oder eben Flugzeuge im Bauch zu toben. Der Biochemiker erklärt dies wie folgt: es werden etliche Endorphine in den Nervenzellen freigesetzt, statten auf ihrer Laufbahn dem Magen einen Besuch ab und lösen dort das altbekannte Kribbeln aus.
Tritt ein, liebe Liebe
Doch leider, leider, leider klebt die rosarote Brille nicht ewig auf der Nase, irgendwann werden die Schmetterlinge müde. Die anfänglich erworbene Brille hält nicht mehr ein, was sie versprach. Die Farbintensität der Gläser lässt nach, und ein Optikerbesuch ist unabdinglich.
Doch die Liebe, die sich aus deinem verliebten Zustand heraus entwickeln kann, mag umso schöner sein. Sie muss hereingebeten und gepflegt werden. Sei dir also bewusst, dass der anfängliche Rauschzustand, den du durch die herzförmige Brille erlebst, nicht ewig hält. Eine neue Brille mit Fensterglas klart die Sicht auf und lässt dich (unwillentlich) die Gänze deines Lieblings inklusive Marotten und Störfaktoren erkennen. Jetzt magst du die Unpünktlichkeit und den lautstarken Fernseher in tiefster Nacht als nervtötend, das Tragen von Socken bei Nacht als unverständlich empfinden. Doch lass dich von diesen wenigen Makeln, die du in purer Verliebtheit ausblendetest, nicht beirren. Du wirst sie nicht ändern können, also versuche es mit Akzeptanz und kümmere dich lieber um dein eigenes Verhaltensmuster in diversen konfliktreichen Momenten und deine eigenen nervigen Marotten. Gib nicht vorzeitig auf, nur weil die Welt nicht mehr in rosarotem Licht versunken ist. Meistere Herausforderungen und genieße pure Liebe. Letztendlich ist sie es, die dir Verbundenheit, Wertschätzung und ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl zu deinem Partner beschert, wie Professor Mees von der Universität Oldenburg herausfand.
Seien wir ehrlich: Regelmäßig zu schlafen und zu essen ist langfristig schlichtweg gesünder als ein andauernder Zustand unter Adrenalin. Die Liebe ist deshalb wie nach dem Besuch eines Optikers, der dich vor absoluter Blindheit bewahrt. Er richtet deine Brille mit klaren, scharfen Fenstergläsern, durch die dein Gegenüber in ein neues Licht rückt. Auch dieses vermag zu strahlen.