Der Zauber des ersten Satzes
Jeder erste Satz eines neuaufgeschlagenen Buches entscheidet.
Darüber, ob wir als Lesende gefesselt werden, überrascht, neugierig gemacht auf das, was sich auf den nächsten Seiten verbergen mag oder ob genau das Gegenteil passiert. Das Buch bei Seite gelegt wird, bevor überhaupt die erste umgeblättert ist.
Der erste Satz aus Peter-André Alts Buch Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten lautet: „Am Beginn jeder Erzählung steht ein Verführungsversuch“ – und was ist der erste Kontakt zwischen zwei Menschen Anderes als genau das: ein Verführungsversuch? Ungeachtet des Ausgangs oder der Entwicklung dieser Kontaktaufnahme, hat sie die Macht und Möglichkeit der Beginn einer Erzählung zu sein.
Es ist folglich nicht verwunderlich, dass es eine Vielzahl von Sprüchen für genau diese Situation gibt, seltsam ist dabei allerdings, welcher Art diese Sprüche sind: Sexistische Anmachen nebst als romantisch erachteten, in der Realität aber völlig peinlichen Abgedroschenheiten, die sich in ihrer fehlenden Individualität gleichen.
Dabei bietet eine erste Kontaktaufnahme so viele Möglichkeiten. Wie spannend ist es, einen Menschen zum ersten Mal anzusprechen, sich Fragen zu überlegen, die den Mantel des Unbekannten, der die Geschichte der Person verbirgt, ein wenig lüften? Oder auch sich selbst in einem Licht zu zeigen, wie man es zuvor vielleicht noch nie gemacht hat? Eine Seite an sich als erstes offenbaren, die sonst womöglich häufig erst zu einem späteren Zeitpunkt entdeckt wird?
Egal ob beim Feiern, an der Supermarktkasse, im Zoom-Call oder über eine Dating-App: Überall kann der erste Schritt getan werden in Richtung Erzählung. Überall kann der Anfang sein von einem oder mehreren Kapiteln, vielleicht sogar von einer ganzen Romanreihe.
Die erfolgreichsten ersten Sätze beim Online-Dating sind dabei solche, in denen auf die Interessen der anderen Person eingegangen wird. Sätze, aus denen hervorgeht, dass sich die anschreibende Person mit dem Profil der angeschriebenen beschäftigt hat. Sätze, die individuell sind und keine Copy-Paste-Massennachricht. Oder gar eine plumpe Anmache, auf die wir alle gut und gerne verzichten können.
Solch eine persönliche Nachricht lässt sich auch wunderbar mit offenen Fragen verknüpfen, die die angeschriebene Person dazu einladen, etwas von sich zu erzählen.
Eine Nachricht à la: „Hi, wie ich sehe, hast du auch ein Rennrad. Seit wann fährst du schon und was war deine bisher tollste Tour?“ offenbart also nicht nur gemeinsame Interessen, sondern bildet auch einen super Einstieg in ein persönliches Gespräch.
Die herausgestellte Gemeinsamkeit kann dann später auch als Aufhänger für ein reales Treffen genutzt werden. Der Vorschlag einer kleinen gemeinsamen Fahrradtour, ein Spaziergang mit einem Coffee-to-go aus dem Lieblingscafé, am besten im Bambusbecher, der verrät, dass du wert auf Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein legst.
Mit dem ersten persönlichen Treffen rückt dann auch der erste Satz in den Hintergrund: dieser hat sein Soll getan, ihr steht euch gegenüber. Jetzt werden die ersten Schritte gegangen, das erste Kapitel aufgeschlagen, die Seite glattgestrichen, der erste Eindruck gewonnen.
Auch wenn der erste Satz also beim Ansprechen oder Anschreiben den ersten Versuch darstellt, Neugierde beim Gegenüber zu wecken, solltet ihr euch auch nicht endlos den Kopf hierüber zerbrechen. Solange ihr einen persönlichen Weg einschlagt und euch nicht in Allgemeinheiten verliert, dürft ihr auf die zweite Chance eines Verführungsversuchs hoffen: ein erstes Treffen.
Dennoch wäre es sicherlich schön, den ersten Sätzen mit fremden Menschen mehr Beachtung zu schenken, vielleicht bilden sie ja den Anfang einer gemeinsamen Zeit. Da ist es doch sehr praktisch, dass man bei einem virtuellen Kennenlernen im Nachhinein nachlesen kann, was der erste Satz denn nun tatsächlich gewesen ist!
